Pflegenotstand hausgemacht. Warum in die Ferne schweifen?

Der Pflegenotstand hat nach allgemeiner Meinung zwei gewichtige Gründe. Der erste Grund ist die relative und absolute Zunahme von immer älter werdenden Menschen in unserer Gesellschaft. Der Bedarf an Pflegeheimen, Pflegeplätzen und Pflegekräften nimmt damit kontinuierlich zu. Letzteres ist zugleich der zweite Grund für diesen Notstand: Es gibt einen eklatanten Mangel an qualifizierten Pflegekräften. Im August 2019 meldete dpa: In der Alten- und Krankenpflege arbeiten rund 1,6 Millionen Menschen, fast 40.000 Stellen sind unbesetzt.
Sucht man nach den Ursachen, so ergibt sich ein buntes Bild. Die Ausbildung kostet Geld. Es gibt nicht genug Pflegeschulen und Ausbildungsplätze. Die Bezahlung ist nicht attraktiv. Karrierechancen sind kaum erkennbar. Die Arbeitszeiten sind familienfeindlich. Anders als etwa in der Schweiz oder in Schweden fehlt es an gesellschaftlicher Anerkennung, Wertschätzung und Respekt. Mehr als Beifall war bis jetzt kaum. Was also tun? Man geht auf Reisen, arme Länder bevorzugt – je ärmer, desto besser!
Juli 2019 (Spiegel): Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hofft bei seiner Reise in den Kosovo auf bis zu 1000 Pflegekräfte pro Jahr.
August 2019 (Ärztezeitung): Die parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium Sabine Weiss reist auf die Philippinen: Wie Pflegekräfte mit Sprachkursen und erleichterten Anerkennungen ihrer Testate auf die Pflegetätigkeit in Deutschland vorbereitet werden können.
September 2019 (Bundesministerium für Gesundheit): In Mexiko lädt Minister Spahn fünfzehn Pflegeausbilder zu einer Seminarreise nach Deutschland ein. Sie sollen nach ihrer Rückkehr für die Arbeit in Deutschland werben.
Juli 2020 (Talent Orange): „Erste Pflegefachkräfte aus Namibia in Deutschland gelandet.“
September 2021 (Anders Consulting): „Im Rahmen unserer Dienstleistungen im Bereich Pflegekräfte vermitteln wir jetzt auch Fachkräfte aus Kenia.“
Mai 2022 (buten un binnen): Warum Pflegekräfte in Jordanien auf einen Job in Bremerhaven hoffen.
Februar 2023 (Mig Magazin): Entwicklungsministerin Svenja Schulze und Arbeitsminister Hubertus Heil wollen Pflegekräfte in Ghana anwerben: „Wir müssen alle Register im In- und Ausland ziehen, um qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen.“
Juni 2023 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales): Bundesarbeitsminister Heil besucht Pflege-Studenten einer katholischen Universität in Brasilien.
Juni 2023 (Deutsche Welle): Deutsche Charmeoffensive für Pflegekräfte – Auf Werbetour in Lateinamerika – Arbeitsminister Heil und Außenministerin Baerbock sind deshalb nach Brasilien geflogen.
Juli 2023 (Westdeutsche Allgemeine Zeitung): Zuwanderung statt Notstand? Die Hürden für ausländische Pflegekräfte liegen hoch. Annie Koyoue aus Kamerun hat sie gemeistert.
Dezember 2023 (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit): Deutschland arbeitet mit Ländern in Asien zusammen, derzeit mit den Philippinen, Indonesien, Indien und Vietnam.
Januar 2024 (Ärztezeitung): Sachsen Sozialministerin Köpping wirbt in Brasilien für die Arbeit als Pflegekraft in Sachsen.
Februar 2024 (Tagesschau): Entwicklungsministerin Schulze ist in Nigeria, um die Fachkräfteeinwanderung aus dem Land zu fördern.
April 2024 (Ärztezeitung): „Ruanda und Rheinland-Pfalz kooperieren bei Pflege“. Ministerpräsidentin Malu Dreyer reist durch das Land, Ziel ist „Fachkräftegewinnung“.
April 2024 (NDR-Fernsehen): In Albanien lernen junge Menschen Krankenpflege auf deutsch. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlassen sie ihre Heimat.
Der langen Liste hinzugefügt werden könnten noch Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Tunesien. Alle diese Länder verlieren ihre jungen Leute, die teilweise schon fertig ausgebildet, aber arbeitslos sind. Damit rechtfertigen die Abwerber ihre ach so gute Tat. Hierzulande werden so die Beschäftigungslöcher gestopft. Die WHO schlägt längst Alarm und listet inzwischen schon 57 Länder auf, in denen ein so großer Mangel an Gesundheits- und Pflegepersonal besteht, dass es sich verbietet, dort auf Werbetour zu gehen.
Es ist nicht nur ein imperialistisches Gehabe, sondern geradezu absurd, einerseits dem hiesigen und anhaltenden zehntausendfachen Exodus der Pflegekräfte zuzuschauen und andererseits gleichzeitig neue Kräfte aus immer weiter entfernten Ländern hierher zu locken. Man müsste stattdessen alles tun, um die ausreichend vorhandenen, aber aus dem Beruf geflüchteten Fachkräfte zurückzuholen, mit ordentlicher Bezahlung, verträglicher Work-Life-Balance, mit Karrierechancen und angemessener ehrlicher Wertschätzung.

Frankfurter Rundschau; Samstag, 11.5.2024 „Dr. Hontschiks Diagnose“